5 digitale Erfahrungen aus der Sozialen Arbeit #Vortragsdokumentation

Titelfolie des Vortrags "Menschen vor Technik" mit dem Title und einer Grafik, Sprechblasen mit gezeichneten Menschen" darauf.

5 digitale Erfahrungen der Sozialen Arbeit und was andere Bereiche daraus lernen können. Vielleicht ist auch für Dich und Deine Arbeit Inspiration dabei.

Bei der Frühjahrsakademie 2023 des Forums Seniorenarbeit NRW durfte ich die Auftakt-Keynote halten. Das Motto der zweitägigen Veranstaltung: „Über den Tellerrand hinaus – Digitalisierung im Sozialwesen“. Meine Aufgabe: Digitale Erfahrungen aus der Sozialen Arbeit, aus ganz verschiedenen Arbeitsfeldern, zusammenzufassen.

Der Titel meines Vortrags:  „Mensch vor Technik – Digitalität und digitale Erfahrungen aus der Sozialen Arbeit“. Dieser Artikel und das eingebettete Video bilden die wichtigsten Punkte zu Dokumentationszwecken ab.

An den beiden Tagen ging es im Kern um eine Frage

Was kann die Arbeit mit Seniorinnen und Senioren aus anderen Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit, und aus den digitalen Erfahrungen dort lernen?

Eingestiegen bin ich da mit einer Frage an das Publikum: Wo hilft Ihnen Digitales in Ihrer Arbeit weiter? Wichtig ist hier nicht die konkrete Antwort, sondern die Perspektive, also der positive, Potenzial und Chancen orientierte Blick auf das Thema. In Deutschland sind wir leider ziemlich gut darin, uns zu beschweren und zuerst Risiken und Probleme zu sehen.

Daher ist es mir sehr wichtig, auf den Nutzen und die Chancen zu fokussieren. Das heißt nicht, die Risiken zu ignorieren. Aber es bedeutet, sich klar zu machen, welchen Nutzen Digitales schon heute ganz konkret bietet.

Digitalität statt Digitalisierung

Eine Bitte hatte ich dann auch noch an das Publikum:

Vergessen wir bitte den Begriff Digitalisierung.

Der Grund: Digitalisierung ist im Grunde etwas sehr Technisches. Die Übertragung von analogen Informationen ins Digitale, um genau zu sein. Der Begriff mit seiner Bedeutung führt leider häufig dazu, dass auch das Thema technisch gesehen wird. Dieser Fokus ist in der Sozialen Arbeit, und in der Arbeit mit Seniorinnen und Senioren, nicht unbedingt hilfreich.

Statt Digitalisierung sollte sich die Aufmerksamkeit auf den Begriff der Digitalität richten.

Digitalität beschreibt, in Kurzform und etwas vereinfacht, die Auswirkungen des Digitalen auf die Kultur und Gesellschaft, also die Reaktion, Veränderung und neue (kulturelle) Verhaltensweisen, die durch digitale Entwicklungen angestoßen oder beschleunigt werden.

Genau das ist auch das Thema, das uns in der Sozialen Arbeit und in der Arbeit mit Seniorinnen und Senioren am meisten beschäftigt. Nicht die Technik und ihre Nutzung an sich, sondern was diese mit Menschen und Gesellschaft machen. Welche Exklusionsrisiken und Inklusionpotenziale, welche Chancen und Herausforderungen bringt sie, zum Beispiel für die digitale Teilhabe, mit sich?

Wer sich darüber näher informieren will, kann gerne einen Blick in das Buch „Kultur der Digitalität“ von Felix Stalder werfen. Ich stimme nicht all seinen Thesen zu, doch das Buch regt zur Reflexion an und macht das Konzept der Digitalität greifbar. Eine Rezension des Buches findest du bei Netzpolitik, eine kritische Auseinandersetzung bei Bob Blume und einen lesenswerten Artikel zur Kultur der Digitalität in Verbindung mit Bildung bei Dejan Mihajlovic´.

Den Kern des Vortrags bildeten jedoch fünf Erkenntnisse aus der Sozialen Arbeit oder aus dem digitalen Raum der Sozialen Arbeit. Diese habe ich bewusst aus verschiedenen Arbeitsfeldern gewählt, um die Bandbreite der Lernerfahrungen und Inspiration deutlich zu machen.

1. Technik braucht Menschen

Technik braucht Menschen – die erste Erkenntnis mache ich unter anderem am Praxisbeispiel DigiTeilhabe fest. Das AWO-Projekt widmet sich, der Name lässt es erahnen, der digitalen Teilhabe und der digitalen Chancengleichheit. Da Projektleiter Matthias Schug bereits im Sozialgespräch Podcast zu Gast war, verweise ich für einen ausführlichen Einblick in das Projekt auf die Podcastfolge.

In allen Projekten an den verschiedenen Standorten, die an DigiTeilhabe beteiligt sind, hat sich gezeigt, dass eine Annäherung an den digitalen Raum und die Technik nur über viel zwischenmenschliche Arbeit und Kommunikation gelingt.

Es ist also nicht so, dass die Technik an sich den Zugang ermöglicht. Erst Menschen, die anderen Menschen dabei helfen sich die Technik zu erschließen, machen den Weg frei, um wirklich digital zu lernen und sich digitale Skills aneigenen zu können.

Also: Technik braucht den Menschen, damit sie wirklich in Vorteil sein und Probleme lösen kann.

2. Zeit und Freiräume sind entscheidend

Zeit und Freiräume sind entscheidend. Das mache ich an einem weiteren Projekt fest: digital@socialwork. Sabine Klingler und Andrea Mayr haben dieses Forschungsprojekt zusammen an der Universität Graz durchgeführt und dabei Sozialarbeiter*innen und Fachkräfte der Sozialen Arbeit befragt. Auch Sabine und Andrea waren bereits im Sozialgespräch Podcast zu Gast.

Einige der Fragen lauteten:

  • Was braucht ihr, um Digitalisierung und digitale Aufgaben meistern zu können?
  • Wie könnt ihr Digitales für eure Arbeit sinnvoll nutzen?
  • Welche Ressourcen wünscht ihr euch dafür?

Natürlich waren Geld und Ausstattung wichtige Themen. Doch der größte Punkt waren Freiräume. Zeit für kollegialen Austausch, fürs Kreativsein, fürs Denken und um Ideen zu entwickeln und fachlich zu reflektieren. Sind diese Freiräume gegeben zeigt sich auch,  dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit gar nicht so digital avers sind, wie sie manchmal dargestellt werden.

Also: Freiräume sind wirklich entscheidend. Fachkräfte dürfen das nicht neben ihrer eigentlichen Arbeit her machen müssen, das Digitale darf keine Zusatzbelastung sein.

3. Manchmal braucht es einfach nur Geld

Manchmal braucht es einfach nur Geld. Dazu hatte ich im Vortrag ein Förderbeispiel dabei: Die Aktion Mensch Förderung Digitale Teilhabe für alle.

Dort werden unter anderem inklusive Kommunikations- und Digitalprojekte gefördert. Die Zielgruppen:

  • Menschen mit Behinderung,
  • Kinder und Jugendliche und
  • Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten.

Gerade die letzte Gruppe ist leider sehr groß.

Es geht um digitale Teilhabe, um Selbstbestimmung, Selbsthilfe, Selbstwirksamkeit und den Erwerb von digitalen Kompetenzen. Wichtig: Alle Projekte müssen mit den Expertinnen und Experten in eigener Sache umgesetzt werden, nicht über oder für sie.

Das Ganze läuft  bis Dezember 2024.  Wer sich inspiriert fühlt: loslegen und bewerben.

Manchmal sind Ideen und Bedarfe schon da. Dann kann Geld, so simpel es klingt, entscheidend sein.

4. Zuhören und beteiligen

Zuhören und Beteiligen sind essenziell. Beim Zuhören muss ich was vorwegschicken. Es gibt verschiedene Arten des Zuhörens. Ich bin jemand, der gerne viel redet, welche Überraschung, und habe in der Vergangenheit leider oft nur zugehört, um antworten zu können. Das heißt, ich habe nicht zugehört, um wirklich zu verstehen, sondern ich habe den anderen ausreden lassen, um dann meinen Ratschlag anzubringen. Das ist nicht die Art von Zuhören, die hier gemeint ist.

Echtes Zuhören heißt zuhören, um zu verstehen und neue Sichtweisen kennenzulernen, um zu verstehen, was andere bewegt und was sie auch wirklich brauchen.

Als Beispiel habe ich die Cloud für wohnungslose Menschen genutzt. Hier handelt es sich um ein EU-gefördertes Projekt, das vom AGJ Fachverband in Freiburg umgesetzt wird. Die Kolleginnen und Kollegen, die das dort tragen, haben natürlich auch Herausforderungen und nicht alles läuft rund oder so schnell, wie sich das Team das wünschen würde.

Doch entscheidend ist: Sie haben diese Cloud für wohnungslose Menschen unter Beteiligung und aktiver Einbindung von Streetworker*innen und wohnungslosen Menschen entwickelt. Das heißt, sie haben die Menschen eingebunden, um die es eigentlich geht.

Die Tatsache, dass ich das hier als Positivbeispiel herausheben kann, ist eigentlich schon traurig, denn das sollte der Standard sein. Nichtsdestotrotz ein gutes Beispiel dafür, dass Zuhören und Beteiligen echt wichtig sind.

5. Hinter jedem Hype steckt Substanz

Hinter jedem Hype steckt Substanz. Wenig überraschend habe ich mir für diesen Punkt ChatGPT als Beispiel herausgegriffen. Beim aktuellen Model, GPT-4, ist unter anderem Be My Eyes als Partner dabei. Sie sind der erste Partner, der die Prompt-Eingabe als Bild mittestet. Statt Text kann ChatGPT hier auf ein Bild reagieren und beispielsweis Alternativtexte für Bilder automatisiert erstellen.

Wichtig: Die Möglichkeiten sind toll, sie schaffen jedoch nicht automatisch Barrierefreiheit! Alternativtexte sollten immer von Menschen überarbeitet und geprüft werden. ChatGPT, auch mit dem GPT-4-Modell, kann da nur unterstützen, nicht mehr. Barrierefreiheit ist eine menschliche Aufgabe!

Be My Eyes erlaubt es Menschen mit einer Sehbehinderung oder -einschränkung, die Sehkraft anderer Menschen zu nutzen. Über die App kann ein Video-Call eröffnet werden, in dem der oder die sehende Gesprächspartner*in dann mit Hilfe der Kamera als Augen der nicht oder schlecht sehenden Person fungiert. Daher auch der Name: Be My Eyes.

Mit GPT-4 testen Be My Eyes und OpenAI, das Unternehmen hinter ChatGPT, ob die KI künftig diese Bilderkennung automatisch übernehmen und menschliche Gesprächspartner*innen, zumindest teilweise, ersetzen kann.

Spaßeshalber und als Demo hatte ich ChatGPT dann angewiesen, mir Projektideen für das oben genannte Förderprogramm der Aktion Mensch zu generieren.

Bei den Ergebnissen waren keine bahnbrechenden Neuerungen dabei, sie eigneten sich allerdings als guter Einstieg und Inspiration für eigene Ideen. Genau das können KI-Tools, wie beispielsweise ChatGPT, heute schon sein: Sparringspartner und Inspirationsquellen für Menschen, die dann daraus richtig gute Arbeit machen.

Vor Ort war der Vortrag mehr als eine Stunde lang. Bei so viel Input kann es durchaus sein, dass das Publikum nicht alles mitnimmt. Daher habe ich als Abschluss immer eine too long, didn’t listen Folie drin. Wenn du also aus diesem Artikel nur einen Abschnitt mitnehmen willst, sollte es der folgende sein.

Drei Schritte für die Praxis

Wie gehe ich konkret in der Praxis vor, um digitale Projekte zu entwickeln?

  1. Die Menschen mit Erfahrung und Bedarfen fragen. Das heißt, nicht nur die Leute einzubinden, die eine Idee haben und ein Problem lösen wollen. Wichtig sind vor allem die Menschen, für die das Angebot sein soll. Hier gilt es zu klären: Ist die Idee überhaupt praxistauglich und nützlich?
  2. Lösungen partizipativ entwickeln. Das heißt, die Menschen mit Erfahrung und Expertise auch einbinden. Fachkompetenz aus einer Sozialarbeiter*innensicht ist wichtig, doch entscheidend ist, Fachkompetenz und Alltags- und Lebenspraxis zusammenbringen.
  3. Ausprobieren, zuhören, verbessern. Das heißt dann: Iterativ weiterentwickeln und testen. Nicht eine Version entwickeln und sagen „ist fertig, passt schon“, sondern die wirklich ausprobieren, Feedback sammeln und weitermachen.

Dann kommt der vielleicht unangenehme Teil: Denn dann geht das Ganze von vorne los.

Wenn ich das Feedback bekommen habe, dann gehe ich zurück und frage nach „Was können wir besser machen und die nächste Version oder Iteration weiterentwickeln?“ Also ein Prozess und Kreislauf.

Was kannst du von diesen Erkenntnissen für deine Arbeit anwenden? Schreib es uns gerne in den Kommentaren. 


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